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BGH, Urteil vom 19.01.2023 – VII ZR 34/20

Keine Kündigung wegen Mängeln vor Abnahme!

Die Auftragnehmerin (AN) wurde von der Auftraggeberin (AG) mit Straßen- und Tiefbauarbeiten beauftragt. Hierzu unterzeichneten die Parteien im Oktober 2004 ein Verhandlungsprotokoll, durch das unter anderem auch die VOB/B (2002) – mit einigen Abweichungen (!) – in den Vertrag eingebzogen wurde. Die Auftragssumme belief sich auf rund 3 Mio. Euro. Im Verlauf der Bauausführung war streitig, ob sich die seitens der AN geschuldete Betonfestigkeitsklasse B 25 auf den Beton im angelieferten oder im verbauten Zustand bezieht. Schließlich rügte die AG die Qualität des verbauten Betons an einem bestimmten Straßenabschnitt und forderte die AN unter Kündigungsandrohung zur fristgerechten Mängelbeseitigung (Kosten von ca. 6.000,00 Euro!) auf. Die AN kam der Mangelbeseitigungsaufforderung nicht nach, worauf die AG den Bauvertrag kündigte. Im Rahmen der daraufhin erhobenen Klage verlangt die AN restlichen Werklohn in Höhe von 2,5 Mio. Euro und die AG widerklagend die Zahlung der Kosten der Ersatzvornahme in Höhe von 4 Mio. Euro. In diesem Zusammenhang rügt die AN die Unwirksamkeit von § 4 Nr. 7 Abs. 3 VOB/B (2002).

Das erstinstanzliche LG Halle beurteilte die Kündigung als freie Kündigung, gab der Klage statt und wies die Widerklage ab. Das OLG Naumburg sah dies anders und bewertete die Kündigung als Kündigung aus wichtigem Grund, wies die Klage ab und gab der Widerklage statt.

Auf die Revision hebt der BGH die Entscheidung des OLG auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des OLG zurück.

Zunächst versteht der BGH § 4 Nr. 7 Abs. 3 VOB/B (2002) so, dass eine Kündigung aus wichtigem Grund einschränkungslos in jedem denkbaren Fall festgestellter Vertragswidrigkeit oder Mangelhaftigkeit – bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs – ausgesprochen werden kann. Damit widerspricht die Klausel dem gesetzlichen Leitbild und ist nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam. Voraussetzung einer Kündigung aus wichtigem Grund ist regelmäßig, dass der AN durch ein den Vertragszweck gefährdendes Verhalten die vertragliche Vertrauensgrundlage derart erschüttert hat, dass dem AG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Eine vertragswidrige oder mangelhafte Werkleistung in der Ausführungsphase kann jedoch nur dann einen wichtigen Kündigungsgrund darstellen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die die Vertragsfortsetzung für den AG unzumutbar machen. Solche können etwa aus der Ursache, der Art, dem Umfang, der Schwere oder den Auswirkungen der Vertragswidrigkeit oder des Mangels folgen. Die Kündigungsregelung in § 4 Nr. 7 Satz 3 i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) weicht von diesen wesentlichen Grundgedanken ab und ist deshalb unwirksam.

Die Entscheidung hat erhebliche Bedeutung für die Praxis, da die VOB/B in den seltensten Fällen als „Ganzes“ vereinbart wird. Dies liegt in der praktischen Schwierigkeit, einen Bauvertrag so zu gestalten, dass eine Inhaltskontrolle einzelner VOB/B-Klauseln ausscheidet. Besonders gefährlich sind z. B. Regelungen in Vorbemerkungen zu einem Leistungsverzeichnis oder die Übernahme von Vertragsbedingungen aus anderen Vertragsverhältnissen der Vertragskette. Zudem ist höchstrichterlich noch nicht geklärt, ob das Ausnutzen von Öffnungsklausel (wie in § 13 Abs. 4 Nr. 1 S. 1 VOB/B zur Gewährleistungsfrist von 4 Jahren) im Vertrag eine die Inhaltskontrolle auslösende Abweichung von der VOB/B darstellt. Daher wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass das Kündigungsrecht nach § 4 Nr. 7 Satz 3 i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002), das der heutigen Fassung des § 4 Abs. 7 Satz 3 i.V.m. § 8 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 VOB/B (2019) entspricht, unwirksam ist.